Was ist islamistischer Extremismus?

Der Begriff Islamistischer Extremismus umfasst ein breites Spektrum an Ideologien und Bewegungen bzw. Organisationen, die gewisse Merkmale teilen. Eine allgemein anerkannte Definition existiert nicht. Es gibt verschiedene Begriffsdeutungen, die umstritten sind. Islamismus, islamistischer Extremismus, islamistischer Fundamentalismus sind nur einige Begriffe, die für die Bezeichnung des Phänomens verwendet werden.

Asef Bayat definiert Islamistischen Extremismus wie folgt: „Ideologies and movements that strive to establish some kind of an „Islamic order“ – a religious state, shari’a law, and moral codes in Muslim societies and communities. Association with the state is a key feature of Islamist politics – one that differentiates it from such religiously inspired but apolitical collectives (…)“ (Bayat 2013: 4). Wie Günay (2017: 6) erläutert, wird die Religion des Islam „nicht als die Privatangelegenheit des Individuums, sondern als ein göttlich geleitetes politisches, soziales und kulturelles System begriffen“.

Demgegenüber definieren Hazim und Behnam (2020) Islamismus aus einer anderen Sichtweise, nämlich als

“eine Ideologie mit einer starken antikolonialen beziehungsweise antiimperialistischen Ausrichtung. Sie ist mit dem Ziel verbunden, islamische Staaten von nichtmuslimischer Einflussnahme zu befreien und möchte außerdem gesellschaftliche Kontrolle über Individuen erlangen sowie ihre Unterwerfung unter die festgelegten religiösen Regeln erreichen. Während sich Islamistinnen und Islamisten unterschiedlicher Richtungen über die groben Ziele der Bewegung relativ einig sind, unterscheiden sie sich massiv in der Wahl der Mittel, mit denen sie ihre Ziele erreichen wollen. Sie reichen von Erziehung, Agitation oder parlamentarischer Beteiligung (“Marsch durch die Institutionen”) bis hin zu gewalttätigen Aufständen oder terroristischen Anschlägen.”
— Hazim F., & Behnam S. (2020): Islamismus, Salafismus, Dschihadismus.

Für die Erläuterung weiterer Begriffe zu Islam und Islamismus, welche für die politische Bildungsarbeit relevant sind und Bezüge zu den Lebenswelten junger Muslime herstellen, siehe: Jugendszenen zwischen Islam und Islamismus. Ein Glossar. LpB BW/Projekt TeamMex, BW-Stiftung, 4. unveränderte Auflage 2017.


Erscheinungsformen

Salafismus

In Deutschland und Österreich hat sich im letzten Jahrzehnt der Salafismus als dominante Strömung innerhalb des islamistischen Extremismus durchgesetzt und ist mittlerweile eher zu einer jugendlichen Subkultur geworden (Abou-Taam 2012). Bei Salafismus “handelt [es] sich um Ausrichtungen an den angeblichen oder tatsächlichen Gesellschafts- und Religionsvorstellungen der Frühgeschichte des Islam, welche Abweichungen oder Neuerungen kaum beziehungsweise nicht zulassen. Demnach sollen die "heiligen Schriften" des Koran und der Sunna nicht neu interpretiert, sondern ahistorisch wortwörtlich genommen werden” (Pfahl-Traughber 2015).

Salafismus ist eine heterogene Bewegung bzw. Erscheinung mit verschiedenen Strömungen, die — vor allem aus strategischer Sicht — durchaus unterschiedlich agieren, jedoch ähnliche bzw. identische Ziele erreichen möchten.

 

Legalistischer islamismus

Als legalistischer Islamismus werden verschiedene Formen des islamistischen Extremismus bezeichnet, die zwar ideologisch als extremistisch einzuordnen sind, jedoch nicht gewaltorientiert sind und sich innerhalb des gesetzlichen Rahmens bewegen. Beispiele für diese Erscheinungsform des islamistischen Extremismus im deutschsprachigen Raum sind die Gruppen Millî Görüş, IMAN und Fitrah (vgl. Schmidinger 2020; Hildmann/Schmid 2020).

Weiterführende Literatur zum legalistischen islamismus

BPB (2021): Randbereiche des Extremismus auf YouTube.
“Seit 2019 analysiert das Monitoring-Team von modus|zad YouTube-Kanäle, die gesellschaftliche und persönliche Themen aus einer islamischen Perspektive interpretieren. Dabei handelt es sich nicht um Kanäle mit dschihadistischen Ansätzen, sondern um sunnitisch-fundamentalistisch geprägte Inhalte, die im Graubereich der Meinungs- und Religionsfreiheit agieren. Im Fokus der Analyse stehen zentrale Akteure, Themen, Trends und Erfolgsrezepte der Kanäle. Im Infodienst-Beitrag beschreibt das Team Vorgehensweise, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen für die politische Bildung und die Präventionslandschaft.”

Vidino L. (2020): Die Muslimbruderschaft im Westen. Konrad Adenauer Stiftung. Analysen & Argumente. März. Nr. 383.
“Das vorliegende Papier entwirft […] eine allgemein anschlussfähige Begrifflichkeit und einen Analyserahmen, der eine einheitliche Erfassung und Kategorisierung von MB-Aktivitäten und MB-Netzwerken in westlichen Gesellschaften ermöglicht.”

Hummel, K.: Hizbut-Tahrir: Die Vorstellung vom besten Kalifat. Konrad Adenauer Stiftung
“Das Kalifat ist in aller Munde. Das dürfte gerade die Anhänger der Partei der Befreiung (Hizb ut-Tahrir, kurz HuT) freuen. Schließlich ist ein weltweites Gottesreich seit Jahrzehnten das zentrale Anliegen der panislamistischen HuT. Doch weit gefehlt. Das Kalifat des so genannten „Islamischen Staates“ (IS) ist nicht das Kalifat der Hizb ut-Tahrir. Ist das ein Grund für Entwarnung? Taugt die HuT, die in ihren öffentlichen Stellungnahmen immer wieder revolutionäre Gewalt ablehnt, als Gegengewicht zum „Islamischen Staat“? Nur dann, wenn man willens ist, mögliche synergetische Effekte auszublenden.”

Hanna Baron (2021): Subtil zwischen Islam und Islamismus: Legalistischer Islamismus in Deutschland am Beispiel der Furkan-Gemeinschaft und Hizb ut-Tahrir-naher Organisationen “Welche Gruppen und Einstellungen können zu legalistischem Islamismus gezählt werden? Was ist an ihnen problematisch? Hanna Baron beschreibt am Beispiel der Furkan-Gemeinschaft und Hizb ut-Tahrir-naher Organisationen Strategien und Wirkungsweisen der Gruppen. Außerdem zeigt sie Möglichkeiten im Umgang mit legalistischem Islamismus für Pädagogik und Präventionsarbeit auf.”


Netzwerke, Strukturen

Die Netzwerke bzw. Strukturen von Salafisten und salafistischen Jihadisten in Österreich und Deutschland sind stets im Wandel. Einerseits sind Führungspersönlichkeiten (z.B. Prediger, “Influencer”) weiterhin zentraler Teil der Szene, da sich sowohl lokale als auch internationale Gruppierungen rund um Einzelpersonen bilden (vgl. Saal 2021). Andererseits nimmt die Rolle eines dezentralisierten Online-Netzwerks rasant zu, das eher unstrukturiert ist und meistens anonyme MitwirkerInnen involviert (vgl. Ayad et al. 2021). In beiden Fällen kann eine starke Internationalisierung beobachtet werden, die weit über Österreich und Deutschland hinausgeht und teilweise bis in die Türkei, Belgien, die Balkanstaaten oder in den Nahen Osten reicht (vgl. Ayad et al. 2021, Flade 2021).

 

Weiterführende Literatur zu islamistischen Netzwerken und Strukturen

Ayad, M.; Comerford, M.; Guhl, J. (2021): Gen-Z & The Digital Salafi Ecosystem: Executive Summary.

“Die Forschung untersucht die Schnittmenge von Gen-Z-Identitäten und digitalem Salafismus und untersucht ein breites Spektrum an englischen, deutschen und arabischen Inhalten, einschließlich der Resonanz spezifischer Subkulturen, Narrative und jugendorientierter Plattformen. Diese digitale Momentaufnahme wird in breitere Debatten über den Salafismus und seine Online- und Offline-Manifestationen kontextualisiert und legt die Auswirkungen der Datenergebnisse auf eine effektive Politikgestaltung und angemessene Reaktionen der Zivilgesellschaft dar.”

BPB (2021): Randbereiche des Extremismus auf YouTube.

“Seit 2019 analysiert das Monitoring-Team von modus|zad YouTube-Kanäle, die gesellschaftliche und persönliche Themen aus einer islamischen Perspektive interpretieren. Dabei handelt es sich nicht um Kanäle mit dschihadistischen Ansätzen, sondern um sunnitisch-fundamentalistisch geprägte Inhalte, die im Graubereich der Meinungs- und Religionsfreiheit agieren. Im Fokus der Analyse stehen zentrale Akteure, Themen, Trends und Erfolgsrezepte der Kanäle. Im Infodienst-Beitrag beschreibt das Team Vorgehensweise, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen für die politische Bildung und die Präventionslandschaft.”

Flade, Florian (2021): Das Terrornetzwerk „Löwen des Balkan“

Der Attentäter von Wien soll zu einem europäischen Islamisten-Netzwerk gehört haben, das schon länger im Blick der Behörden steht. Dieser Artikel beschreibt dieses transnationale Netzwerk.

Steinberg, G. (2021): Dschihadismus in Österreich – Eine gefährliche Szene mit großer ideologischer Stahlkraft. Konrad Adenauer Stiftung – Studienreihe “Islamistischer Terrorismus in Europa”, März.
”Dr. Guido Steinberg analysiert die aktuelle die dschihadistische Bedrohungslage in Österreich sowie die entsprechenden Bekämpfungsstrategien und die politische Debatte.”

Kahl, Martin; Brost, Lea; Morgenstern, Theresa; Sold, Manjana (2022): Islamismus und islamistischer Terrorismus in Deutschland seit 2001
”Dieser Research Report schließt eine Forschungslücke. Denn bisher gibt es keine Langzeitstudie, die die Aktivitäten von Islamist:innen in Deutschland umfassend aufarbeitet und damit eine Grundlage für die Gefährdungseinschätzung durch und den Einfluss von Islamist:innenen bereitstellt.”

 

Lohlker, R., El Hadad, A., Holtmann, P., & Prucha, N. (2016): Transnationale Aspekte von Salafismus und Dschihadismus.

“Salafismus und Dschihadismus machen nicht Halt an nationalstaatlichen Grenzen. Der Report untersucht die Transnationalität dieser unterschiedlichen Phänomene anhand von drei Aspekten: Welche zentralen Akteure gibt es? Welche Rolle spielt die Sprache und die Vernetzung über das Internet? Er beschreibt Reisebewegungen beider Strömungen, u.a. die Ausreisewelle deutscher Dschihadisten nach Syrien und den Irak.”

Meike Krämer, (2023): Die unsichtbaren Schwestern. AkteurInnen auf TikTok und Instagram im Spektrum Extremismus, Salafismus, Islamismus und Aktivismus 
„Dieser Bericht widmet sich Social-Media-Beiträgen von Frauen auf Instagram und TikTok die als salafistisch, islamistisch, aktivistisch und/oder extremistisch eingestuft werden.“

Philipp W. Hildmann / Susanne Schmid (Hrsg.) (2020): Salafismus in Deutschland und Bayern

“Wo stehen wir in Deutschland und Bayern im Kampf gegen Salafismus? Was sind die Ursachen für religiös begründete Radikalisierung? Welche Rolle spielen Soziale Medien? Wie kann man Kinder und Jugendliche stärken und für Demokratie und Pluralismus begeistern? Welche Maßnahmen der Prävention und Deradikalisierung haben sich im Phänomenbereich Salafismus bewährt?”


Strategien

Aus strategischer Sicht gibt es innerhalb des islamistischen Extremismus mehrere Strömungen, die nicht gewaltorientiert sind und ihre Ziele durch friedliche Mittel erreichen wollen. Innerhalb des Salafismus ist die sogenannte Da’wah (islamistische Missionierung) die häufigste friedliche Strategie, die darauf abzielt, die eigene Auslegung des Islams als die einzig richtige darzustellen und sowohl Nicht-MuslimInnen als auch MuslimInnen zur Konversion zu diesem vermeintlich wahren Islam zu gewinnen. (vgl. Bangstad/Linge 2015; Schmidinger 2020) Die sogenannte Da’wah findet heutzutage zunehmend auf sozialen Medien online statt.

Die Verbreitung extremistischer Propaganda in visualisierter Form auf sozialen Medien hat sich in den letzten Jahren stark als integraler Teil einer Subkultur etabliert, in der sich auch Frauen intensiv beteiligen.

Salafisten verwenden spezifische Frames und Narrative, um neue Mitglieder zu rekrutieren bzw. ihre Ziele zu erreichen. Aufgrund der seit Jahrzehnten zunehmenden Rolle des Internets, vor allem unter Jugendlichen, werden diese Frames heute großteils auf ein junges, digitales Publikum zugeschnitten und auf sozialen Medien (unter anderem YouTube, Telegram, Instagram, TikTok) verbreitet, die wiederum die subkulturelle Etablierung des Salafismus unter Jugendlichen vorantreibt. Ein zentrales Merkmal dieser Strategie ist die Mediatisierung der Propaganda, d.h. die zunehmende visuelle Darstellung (bzw. Begleitung) von schriftlichen Inhalten. (Hacker/Pisoiu 2020, Ayad et al. 2021)

Der Salafismus hat sich im letzten Jahrzehnt im deutschsprachigen Raum zu einer jugendlichen Subkultur umgewandelt und sich dadurch — im Vergleich zu anderen extremistischen Strömungen — rasant verbreitet. Er wird damit quasi als Bedienungsanleitung für das Alltagsleben verwendet, da alle Vorschriften für das individuelle Verhalten als Pflichten gegenüber Gott verstanden werden: Er bietet Orientierung sowie Zusammengehörigkeits-gefühl an, fordert Gehorsamkeit und wirkt bei der Identitätsbildung mit (vgl. Abou-Taam 2012). Diese subkulturelle Etablierung und die begleitende Mediatisierung führen dazu, dass Salafismus auch ohne theologisches Wissen angewendet werden kann, indem Zitate als Analogien ohne Kontextualisierung verwendet werden. Der Salafismus hat aufgrund dieser Subkultur-orientierten Strategie eine besonders starke Anziehungskraft für Jugendliche und junge Erwachsene, “die ein Ergebnis von Akkulturationsprozessen darstellt, welche die muslimische Minderheit in der Diaspora durchläuft” (Fouad 2019).

Wo stecken die Gefahren von Musik mit ideologischem Hintergrund? Wird durch Musik radikalisiert und wenn ja, wie? Und was sind die aktuellen Trends auf dem Gebiet? Flemming Ipsen (Rechtsextremismusexperte) und Behnam T. Said (Islamwissenschaftler) beantworten unter anderem diese Fragen.

Musik spielt in extremistischen Strategien eine zentrale Rolle, auch beim islamistischen Extremismus. In vielen Fällen bietet szene-typische Musik einen einfachen Einstieg in die Szene bzw. in die Ideologie, ohne dass man diese als extremistisch erkennt. Bei islamistischen ExtremistInnen stehen Anasheed (Gesänge im Sinne zur Lobpreisung von Allah) im Mittelpunkt, obwohl in den letzten Jahren zunehmend Deutschrap zwecks Rekrutierung in islamistische Gruppierungen verwendet wurde. (vgl. Krendl 2019)


Weiterführende Literatur zu den verschiedenen Strategien

Moustafa Ayad (2021): Islamogram: Salafism and Alt-Right Online Subcultures
“This report provides an ethnographic deep dive into an emerging online Salafi ecosystem, referred to by its members as ‘Islamogram’. This highly active online community merges Salafist ideas with alt-right memes and gaming subcultures, and represents a hybridised cross-platform challenge, speaking to an emerging trend characterised by increasing ideological fluidity between diverse online extremist communities.”

Jason Burke (2016): The Age of Selfie Jihad: How Evolving Media Technology is Changing Terrorism.
“Extremists have sought to exploit the latest media technology to instill fear in target populations and elicit support from sympathetic audiences. In order to aid their recruitment, they adapt their tactics and strategy and structure their organizations accordingly. Recent rapid technological change that allows terrorists to reach a large audience quickly and directly has enabled them to achieve their messaging goals without launching large-scale attacks that demand significant physical infrastructure. Increasingly, thanks in part to the digital revolution, they can rely on what the Syrian jihadi strategist Abu Musab al-Suri called individual terrorism.”

Baz, M. A. (2017): Online Islamic Da'wah narratives in the UK: the case of iERA.
Diese Dissertation analysiert die Da’wah Strategie der britischen Organisation iERA, die auch in Europa wesentlichen Einfluss auf die Da’wah-Aktivitäten verschiedener Gruppierungen hat.

BPB (2022): Monitoring von islamistischen YouTube-Kanälen. Das Projekt “Peripherie des religiös begründeten Extremismus”.
“Seit 2019 analysiert das Monitoring-Team von modus|zad YouTube-Kanäle, die gesellschaftliche und persönliche Themen aus einer islamischen Perspektive interpretieren. Dabei handelt es sich nicht um Kanäle mit dschihadistischen Ansätzen, sondern um sunnitisch-fundamentalistisch geprägte Inhalte, die im Graubereich der Meinungs- und Religionsfreiheit agieren. Im Fokus der Analyse stehen zentrale Akteure, Themen, Trends und Erfolgsrezepte der Kanäle. Im Infodienst-Beitrag beschreibt das Team Vorgehensweise, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen für die politische Bildung und die Präventionslandschaft.”


jihadistischer Terrorismus in Europa